„Ich mag kein lautes Akkordeon, das wie Bahnhof klingt”
(Berio).
Das Akkordeon hat eine reiche Tradition verschiedenster Verwendung
und mit daraus resultierenden Klangtypisierungen. Nicht überall
assoziiert man, wie hierzulande, bei seinem Klang Einfältigkeit.
In den neapolitanischen Lieder, den Tangos und Milongas Argentiniens
oder den französischen Chansons verleiht es jenen zart verhangenen
Unterton, gibt es sich als Sprachrohr einer feinen Melancholie.
Luciano Berio, der aus der italienischen Region Imperia, unweit
der französischen Grenze stammt, mag diesen Klang.Sein Bemühen,
auch das idiomatische Vermächtnis spezifischer musikalischer
Milieus einzubinden, zu erweitern und zu transformieren - ohne Scheu
oder Abgrenzung von der Popularmusik -, signalisiert Berio mit dem
Titel chanson .
Instrumentaltechnisch wird neben dem üblichen linken Manual
des Konzert-Akkordeons, mit den chromatisch angeordneten Einzeltönen
vom Kontra-E zum cis4, auch das fast ausschließlich in der
Unterhaltungsmusik verwendete Akkord-Manual mit einbezogen. Bei
diesem wird durch einen Knopf- der die einzelnen Töne zu Dur-
, Moll-, Septimen-, oder verminderte Septimenakkorde koppelt - Harmonien
auslöst. Die spieltechnische Beschäftigung mit diesem
Manual scheint zunächst wenig einladend, da die Akkorde für
lapidare Begleitformeln präformiert sind und zur leichteren
Ausführung günstig angeordnet werden. Hingegen ist es
spieltechnisch äußerst kompliziert, unübliche Akkordfolgen
zu verwenden oder die standarisierte Harmonik zu durchbrechen. Durch
bestimmte Schichtungen und Kombinationen der vorgegebenen Akkorde
- wie sie nur mit einem Akkordeon realisierbar sind - werden ungeahnte
Schattierungen, interferierende Schwingungen und klangfarbliche
Prozesse von neuartigen Kolorit freigesetzt.
Berio bevorzugt die leisen Töne, kultiviert die zarten Nuancen.
Extrovertierte Virtuosität steht nicht im Vordergrund, vielmehr
wird dem Spieler eine präzies-virtuose Kotrolle der instrumental-klanglichen
Gesten abverlangt.
Den inneren Kern von der Sequenza XIII bildet eine Reihe von elf
Tönen. Diese melodische Zelle mit charakteristisch absteigenden
Quarten wird in vielgliedrigen phantasievollen Figurationen quasi
endlos entwickelt und durch ständiges Verknüpfen unterschiedlicher
Prozesse in gegenseitige Beziehung gebracht. Durch Überlagerung
verschiedener Tempi oder wiederholte Einflechtung in die vielfältige
Akkordik der linken Hand wird das „Lied” in immer wieder
neue Klang-Räume geführt, verschmolzen, verwandelt oder
kontrastiert.
Durch die Verwendung des Akkordwerks - das nur zwischen e und dis
2 erklingt - ergibt sich eine vorherrschende Klanglichkeit der weichen
Mittellage, in der auf Dauer die genauen Grenzen immer mehr verwischen.
Die Beobachtung des Spielablaufs ist für Berio immer wieder
Auslöser für die Entwicklung spieltechnischer Neuerungen,
wobei die Beziehung zwischen dem Musiker und seinem Instrument in
Sequenza XIII kompositorisch indirekt thematisiert wird. Die Nähe
des Akkordeonisten zum Instrument und die damit zusammenhängende
Körperlichkeit gestaltet Berio zu einer Verschmelzung und fließenden
Wechselbeziehung zwischen Sprachton und Instrumentalklang. Es entstehen
entrückte, eigensinnig „ fremde Szenen”.
Die Sequenza XIII wurde im Auftrag der Kunststiftung Rotterdam
im Oktober 1995 in einer Erstfassung für Teodoro Anzellotti
geschrieben und von ihm am 9. November 1995 uraufgeführt. Die
revidierte und endgültige Fassung entstand für die Wittener
Tage für neue Kammermusik im April 1996.
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