Luciano Berios Entwicklung verlief
alles andere als geradlinig, was sich bereits an seinen Lebensstationen
ablesen lässt: Der 1925 an der ligurischen Meeresküste
in Oneglia/Imperia geborene Berio wurde zuerst durch seinen
ebenfalls komponierenden Vater gefördert. Solides Handwerk
und eine tiefe Beziehung zur musikalischen Tradition Italiens
verdankt er auch seiner Ausbildung am Konservatorium Mailand
bei Giulio Cesare Paribeni und Giorgio Federico Ghedini (Abschluss
1951). Autodidaktisch setzte er sich daneben mit der zweiten
Wiener Schule, mit Bartók, Strawinsky, Hindemith und
Milhaud auseinander, bevor er dank eines Stipendiums der Koussevitzky
Foundation 1952 in Tanglewood bei Dallapiccola studieren konnte,
der ihn in die Methode der Zwölftontechnik einführte.
Darmstadt brachte ab 1954 die wichtige Begegnung mit den
Wortführern der musikalischen Avantgarde, was als ästhetisches
Programm zur Gründung der eigenen Zeitschrift Incontri
Musicali (Musikalische Begegnungen, 1956 bis 1960) und der
gleichnamigen Konzertreihe führte. Gleichzeitig leitete
er 1954-1959 zusammen mit Bruno Maderna in Mailand das Studio
di Fonologia der RAI, wo er mit elektronischer Musik experimentierte.
In dieser Zeit lernte er auch John Cage kennen, den er in
Italien einführte und dank einer Quizsendung der RAI
zu grosser Popularität brachte. Von ihm übernahm
er eine radikal tolerante Position bei der Definition von
Musik: „Music is everything that one listens to with
the intention of listening to music.” 1961/1962 lehrte
er an der Dartington Summer School, 1962-1964 im Wechsel mit
Darius Milhaud am Mills College und 1965-1971 an der Harvard
University und an der Juilliard School, wo er 1967 das Juilliard
Ensemble für zeitgenössische Musik gründete.
1974-1980 war er Direktor der elektro-akustischen Abteilung
des IRCAM in Paris, 1975 wurde er künstlerischer Leiter
des Israel Chamber Orchestra; die gleiche Position übernahm
er 1984 beim Maggio Musicale Fiorentino und 1987 beim Studio
für elektronische Musik Tempo reale in Florenz. 1993/94
hielt er unter dem Titel Remembering the Future Poetik-Vorlesungen
am Charles Eliot Norton Chair der Harvard University.
Ähnlich, wie in diesen Verpflichtungen das Interesse
am Experiment und an der Tradition dicht nebeneinander stehen,
ist auch das kompositorische Oeuvre durch häufige Stilwechsel
gekennzeichnet: „Perhaps thats just what music is: the
search for a boundary that is continually being shifted”.
Und gerade in dieser ständigen Veränderung ist Berio
repräsentativ für die musikgeschichtlichen Prozesse
der Nachkriegszeit.
Ausgebildet auf verschiedenen Instrumenten und häufig
Dirigent vornehmlich eigener Werke, hat Berio vergleichsweise
wenige theoretische Abhandlungen geschrieben, darunter allerdings
so grundsätzliche wie „aspetti di artigianato formale”
und „poesia e musica - un' esperienza”. Umso wichtiger
sind seine verstreut überlieferten Erläuterungen,
vor allem kurze, prägnante Werkeinführungen. Als
bekannte Komponistenpersönlichkeit, die mit im Zentrum
des internationalen Konzertbetriebs steht, wird Berio zudem
häufig zu öffentlichen Stellungnahmen und Interviews
aufgefordert.
Seit 1958 portraitiert Luciano Berio in Solostücken
die wichtigsten Instrumente: zeitgenössische Portraits
traditioneller Instrumente, die das Gattungs- und Traditionsbewusstsein
reflektieren, mit dem üblichen Bild der Instrumente spielen,
sich zugleich aber auch davon abgrenzen, neue Bilder der Instrumente
entwerfen. Eindimensionalität hat Berio nie interessiert.
Im Zentrum steht der Klang eines jeden Instrumentes - und
dessen Spielweisen, die idiomatischen, aber auch deren Gegenteil.
Klang und Spielweisen werden ausgelotet, bis an die Grenzen
und darüber hinaus, teils in einer eigentlichen Recherche
musicale, meist in engster Zusammenarbeit mit den jeweiligen
Solisten. Die Stücke sind so immer auch ein Portrait
ihrer Interpreten. Jedes Stück hat Berio im Hinblick
auf einen Virtuosen geschrieben, nicht für elegante,
etwas blässliche Männer mit hohlem Kopf und flinken
Fingern, wie er sagt, sondern für Musiker mit breitem
Horizont, die das klassische Repertoire ebenso bewältigen
wie die Musik der Avantgarde. Neben besonderen technischen
Fertigkeiten sind insbesondere die raschen Wechsel im Ausdruck
und von konventionellen bzw. zeitgenössischen Spieltechniken
gefordert, die geistige Virtuosität künstlerischer
Sensibilität und Intelligenz. „Das Virtuosentum
entspringt oft einem Konflikt, einer Spannung zwischen musikalischer
Idee und Instrument. Die Neuheit des musikalischen Gedankens
verlangt nach einem veränderten Umgang mit dem Instrument.
Die besten Solisten unserer Zeit - modern in ihrer Intelligenz,
ihrer Sensibilität, ihrer Technik - sind auch fähig,
sich in einer weiten historischen Perspektive zu bewegen und
die Spannungen zwischen den schöpferischen Impulsen von
gestern und heute aufzuheben”;. Berios erster Modellsolist
war so Severino Gazzelloni, Protagonist im Vivaldi-Revival
und in der Avantgarde. Bach ist in Sequenza so nahe wie Darmstadt.
In jedem Stück sucht Berio den Charakter, die Seele
des Instrumentes, einmal in dessen spezifischem Ausdruck,
aber auch indirekt, gerade durch eine unidiomatische Verwendung,
oft mit spielerischem Zugriff, ganz so, wie ein Kind seine
Spielsachen auf alle illegitimen Verwendungszwecke hin abklopft,
bis an die Grenzen des Instrumentes und seines Interpreten
- ohne das Instrument als solches jemals zu verändern
oder auch nur zu präparieren:
„Es ist meine Ueberzeugung, dass Musikinstrumente nicht
wirklich verändert, auch nicht zerstört und erst
recht nicht erfunden werden können. Ein Musikinstrument
ist aus sich heraus ein Teil der musikalischen Sprache. Der
Komponist kann zur Entwicklung der Musikinstrumente nur beitragen,
indem er sie gebraucht und die reichhaltige Natur seines Werdegangs
zu verstehen sucht, der soziale, technologische und ökonomische
Bedingungen spiegelt. Das ist auch ein Grund, warum ich nie
versucht habe, das Erbgut eines Instrumentes zu verändern,
noch es gegen seine eigene Natur einzusetzen”.
Immer wieder hat es Berio allerdings gereizt, das Bild des
Instrumentes zu weiten, insbesondere typisch monodischen Instrumenten
Mehrstimmigkeit zu entlocken, explizit und implizit, hervorgerufen
durch rasche Wechsel von Haupt- und Nebennoten, von Tonregistern,
Klanglichkeit und Ausdruck, auch durch Mehrklänge auf
Blasinstrumenten. Bei Instrumenten, die bereits für mehrstimmiges
Spiel disponiert sind, wie die Harfe oder das Klavier, schuf
er eine Polyphonie im metaphorischen Sinn, als Polyphonie
von Gesten, Resonanzen und Klangschichten. Oft bilden auch
symbolische Accessoires eine eigene Ebene, der Dämpfer
der Posaune, der eine eigene Stimme erhält, schwingende
Luftsäulen, die Trompetenstösse auslösen, der
Stimmton der Oboe, das Nachstimmen der Gitarre.
Jedes Stück ist geprägt von einer Abfolge oder
Sequenz spezifischer harmonischer Felder, was der Werkreihe
den Titel geliehen hat. In der Rückschau lässt sich
der Titel „Sequenz” auch als Überbegriff
für die ganze Serie der bislang 13 Stücke anwenden,
die eine über 40 Jahre sich erstreckende Anthologie der
Musik für Soloinstrumente umfasst.
Die Werkreihe der Sequenzen behandelte bisher vorab die Orchesterinstrumente:
die vier Holzblasinstrumente, Trompete und Posaune, Violine
und Viola, dazu Klavier und Harfe, Gitarre und die menschliche
Stimme. Seit langem geplant sind Sequenzen für Violoncello
und für Schlagzeug, während etwa für das Horn
kein kompositorisches Interesse besteht. Ausserhalb dieser
Reihe schrieb Berio Solowerke, die meistens nur einen bestimmten
Zentralaspekt des Instrumentes hervorheben, der dem Werk auch
den Titel gibt: neben Solowerken für Orgel, Violoncello
und Kontrabass sind dies "Gesti" für Blockflöte,
„Rounds” für Cembalo und „Lied”
für Klarinette.
„Chanson”, die jüngste Sequenz, Nr. XIII
für Akkordeon aus dem Jahre 1995/96, steht ein bisschen
zwischen diesen beiden Werkreihen: Eine Sequenz zwar, aber
die einzige mit einem Untertitel. (Klammerbemerkung: Einige
der Solosequenzen hat Berio später in ein orchestrales
Gewand gekleidet und unter dem Reihentitel „Chemins”
zusammengefasst. Hier trifft man dann ebenfalls Untertitel
an - und auch die Bezeichnung „Corale” für
die Erweiterung der Sequenza für Violine, womit eine
erste Verwandtschaft angetönt sei.)
„Chanson” verweist auf das letztgenannte „Lied”
für Klarinette; das Akkordeon ist wie die Klarinette
ein Instrument zwischen den Blöcken, ein Instrument für
das sogenannt Seriöse und für die unterhaltende
Musik, ein vielgespieltes, aber kaum ein Orchesterinstrument.
Damit ist auch die Nähe zur Sequenz Nr. 11 für Gitarre
gegeben, die mit der Spannung zwischen klassischem und Flamenco-Stil
spielt und sich bestimmter Rasguado-Techniken bedient. - Unterhaltende
Elemente finden sich daneben durchaus auch in anderen Sequenze,
besonders auffällig in Sequenza lll für Stimme,
die im Umfeld von Pop Art und Comic Strip angesiedelt ist,
sowie in den Clownerien von Sequenza V für Posaune. Im
übrigen entsprach es immer Berios Ueberzeugung, dass
es von Musikalität zeuge, wenn man auch das Handwerk
der Unterhaltungsmusik beherrsche, was Berio selber in raffiniertester
Weise bei seinen Adaptationen von Beatles- und Weill-Songs
bewies, aber auch in eigenen Stücken.
Die Ambivalenz beginnt bereits mit der Widmung. Wie die Sequenzen
für Trompete und Posaune, die neben den Interpreten auch
die Musikpersönlichkeit Ernest Fleischmann bzw. den Musikclown
Grock mit seinem legendären „Warum?” ehren,
trägt sie eine Doppelwidmung: „scritta per Teodoro
Anzellotti e dedicata a Gianni Coscia”, geschrieben
also für (und mit) dem führenden Solisten, der das
zeitgenössische Akkordeonspiel weiterentwickelt und die
Komposition für dieses Instrument wesentlich mitgeprägt
hat - und gewidmet einem der führenden Jazz-, Klezmer-
und Tangoakkordeonisten, dem Poeten eines fast verschwundenen
Italiens - und früherem Rechtsanwalt.
Nun, bereits das Thema hat es in sich, die ganze Ambivalenz,
die das Instrument so faszinierend macht.
Eine merkwürdige Melodie, die in Quarten fällt,
dazu ein Kontrapunkt mit Quinten und Quarten - ein denkbar
archaisch anmutendes Bicinnium. Und dieser Kontrapunkt ist
ein Bass in verblüffender Führung: F-C-G-D-A-(as)
E-(b)-H, später H-Fis-Cis-Gis-Dis-B (= Ais), (ges)-F
(=Eis) -C (=His) - nichts weniger als der komplette Quintenzirkel.
Die Assoziationen liegen auf der Hand: Etüde, Schulwerk,
aber auch Mozarts g-moll-Sinfonie, die Meisterschaft der Durchführung.
Und sie liegen auch in der Hand, in den Quintgriffen des Akkordeons.
In einer späteren, virtuosen Stelle folgt Berio präzis
der Fingerstellung, schreibt förmlich die Grifftabelle
ab: Das sich abspulende Tonmaterial wird der Mechanik entliehen.
- In ähnlicher Weise prägte etwa die Stimmung der
Gitarre das Material der Sequenza Xl.
Hier hat man nun einen Takt lang die karikaturistisch verzerrte
Welt des idiomatischen Akkordeonspiels: tanzende Finger, scheinbar
leere Figurationen, die lärmend daherrasseln, mechanische
Akkordkoppelungen - gebrochen allerdings durch tritonusreiche
Umspielungen im Diskant und die plötzliche Rückkehr
zur Ruhe und Einfachheit des Anfangs, dessen dünne Textur
durch den Vierfuss der linken Hand noch unterstrichen wird.
Ein kleiner Exkurs:
Berio verwendet hier das 2. Manual mit seinen festen Akkord-Koppelungen,
das Standard-Bass-Manual, das man fast ausschliesslich aus
der Unterhaltungsmusik kennt. Bei diesem traditionellen Akkordmanual
werden durch einen Knopf, der die einzelnen Töne zu Dur-,
Moll-, Septimen- oder verminderten Septimenakkorden koppelt,
Harmonien ausgelöst. Die spieltechnische Beschäftigung
mit diesem Manual scheint zunächst wenig einladend, da
die Akkorde für lapidare Begleitformeln präformiert
sind und zur leichteren Ausführung günstig angeordnet
werden. Hingegen ist es spieltechnisch äußerst
kompliziert, unübliche Akkordfolgen zu verwenden oder
die standardisierte Harmonik zu durchbrechen - was für
Berio natürlich eine besondere Herausforderung darstellte.
Durch bestimmte Schichtungen und Kombinationen der vorgegeben
Akkorde - wie sie nur mit einem Akkordeon realisierbar sind
- werden ungeahnte Schattierungen, interferierende Schwingungen
und klangfarbliche Prozesse von neuartigem Kolorit freigesetzt,
entfernt vergleichbar den Resonanzen, die Berio in seinen
Sequenzen für Klavier rsp. Trompete verwendet hat, wo
mit dem mittleren Pedal rsp. dem resonierenden Flügel
ein metaphorischer Diskurs auf einer Sekundärebene geführt
wird. Zugleich setzt allein schon die Verwendung dieses Manuals
ein Zeichen, und ein imaginärer Dialog der Kulturen wird
in Gang gebracht. Das Akkordwerk, das nur zwischen e und dis2
erklingt, ergibt dabei eine vorherrschende Klanglichkeit der
weichen Mittellage, in der die genauen Grenzen immer mehr
verwischen.
Wie im Stück nun zurück zum Thema: Zwischen die
beiden sich kontrapunktierenden Stimmen eingeschoben wird
eine chromatische Mittelstimme. Dann erst wird ein Akkord
aufgebaut, organisch, mit aufgesetzter Quarte. Ein solcher
Aufbau von Akkorden findet sich oft in diesem Stück,
mit Zusatztönen, die Berio manchmal erst im weit fortgeschrittenen
Kompositionsprozess aufgesetzt hat. So nützt er die großen
Spannweiten - auf dem Knopfakkordeon kann man ja bis zu drei
Oktaven greifen - und schafft Klänge, die nur auf diesem
Instrument möglich sind. Oft entfalten sich so eigentliche
Mixturfarben, wobei sich die hinzugefügten Hochtöne
gelegentlich auch zu eigenen chromatische Linien und damit
zu eigenen Schichten zusammenfügen.
Durch die weite Lage ergibt sich ein neutraler, unspezifischer
„Geruch”. Neutral, ja fast distanziert, zitiert
ist auch der feine Klang mit der weichen Achtfuß-Registrierung
und den weiten Legato-Bögen: sempre ppp e lontano, einer
der Lieblingsausdrücke Berios, wenn er auf fremde Welten
verweist; in Rendering etwa, seiner Annäherung an die
letzten Schubert-Sinfoniefragmente, erscheint so ein ganzes
Reich der Imagination, gespickt mit realen und uneigentlichen
Zitaten.”' Ein grundsätzlicher Unterschied ist
allerdings da: In Rendering sind solche Stellen mit non cantando
- mit drei Ausrufezeichen - versehen, während der Untertitel
der Sequenza „Chanson” heißt. Entsprechend
gesanglich ist die metrische Gliederung in übersichtliche,
liedhaft geschlossene Phrasen, die sich indes überlappen.
Taktstriche stehen zwar selten, praktisch nur dort, wo ein
neues Tempo beginnt, gelegentlich auch, wo sich die Satzart
ändert. Auch ohne Taktvorzeichnung ließe sich ein
Puls durchhalten, wenn nicht immer in Halben, so doch in den
vorgegebenen Zählzeit Vierteln, die sich zumeist quadratisch
gruppieren zu virtuellen Vier- und Achttaktern; dies ganz
im Gegensatz zu den erwähnten non cantando-Stellen von
Rendering, die ausdrücklich senza tempo stehen und die
Zeit aufheben. Ganz im Gegensatz auch zu den anderen Sequenzen,
die gerade mit ihrer rhythmischen und metrischen Offenheit
spielen - und so Umberto Eco den Anstoß gaben, seine
Poetik des Offenen Kunstwerkes zu entwerfen. Auch die streng
metrisierten Ueberarbeitungen - etwa der Sequenza für
Flöte - leben noch von der Zweideutigkeit, die durch
überzählige oder fehlende Zählzeiten erzielt
wird. Aber Sequenza XIII ist anders, ein „Chanson”
eben. Auch wenn sich im extrem differenzierten rhythmischen
Gefüge des Themas keine Dauer wiederholt - auf eine serielle
Ordnung wird allerdings verzichtet - und die vielen Vorhalte
und Antizipationen auf strenge Kontrapunktregeln verweisen,
erinnert der Rhythmus eher an eine leicht swingende, synkopierte
Unterhaltungsmusik.
Das Schreittempo, Viertel = 66, ma flessibile, eignet den
Quint- und Quartgängen, ist aber auch den anderen Sequenzen
gemein. Und mit diesen verbindet sich, dass gleich ein harmonisches
Feld ausgeschritten wird. Reduziert man das Tonmaterial auf
die oktavunabhängige Pitch class, erhält man ein
streng symmetrisches Muster, mit dem in Kleinsekund-Paaren
fächerartig das chromatische Total angestrebt wird, abbrechend
allerdings nach dem 11. Ton. f-e, h-c, fis-g, b-a, es-(h)d,
as-(a): ein Muster, das Berio bereits 30 Jahre zuvor bei der
versione provisoria der Sequenza VII für Oboe verwendet
hatte.
Das fehlende Cis ist dann Ausgangspunkt der nächsten
chromatischen Auffächerungen, Grundton sowohl des Diskant-
wie auch des Bassakkordes, zugleich auch melodisch chromatischer
Leitton in beide Richtungen und abermals Grundton und Wechselnote,
während der vormalige Ausgangston F nun in eine Austerzung
versteckt wird. Der in diesem neuen 11-Ton-Feld fehlende Ton
Es erhält seinerseits dann im dritten Abschnitt besondere
Bedeutung durch seine prominente Lage, mehrfach zuoberst im
Akkord. Und blickt man zurück, kann man dem Es zuvor
fast Orgelpunkt-Qualitäten zusprechen. Der Komplementärton
zur Elftönigkeit hat so jeweils eine ausgesprochene Scharnierfunktion.
Diese Kettenbauweise mit der Verknüpfung harmonischer
Felder durch ein komplementäres Element, das im Folgefeld
Auftakt- und prägende Funktion erhält, lässt
sich bei Berio bis in die siebziger Jahre zurück verfolgen;
beim Orchesterwerk Still war dieses harmonische Verfahren
gar konstitutiv.
Ist die Elftönigkeit der Reihe erreicht, der Akkord
nun vierstimmig und die Quartmelodik am Phrasenende, so bekräftigt
dies ein Vibrato und ein Akzent, der zugleich Auftakt zur
nächsten, sich überlappenden Phrase ist. Das Vibrato
hat dabei mehrere Funktionen:
Gliederung, aber auch Störung des ruhigen Schreitens
und des schönen Klanges, und schließlich zeichenhafter
Verweis auf die Unterhaltungsmusik, die das Vibrato exzessiv
verwendet. Indem Berio das Vibrato deutlich aufsetzt, denunziert
er es aber auch.
In der Fortsetzung nimmt die variative Wiederholung das Modell
Pedalton-Melodie-Konkapunkt, Quint-Quart-Fälle und chromatische
Mittelstimmen, Bekräftigung rsp. Störung durch Vibrato
und Akzent auf; die Stimmenzahl wächst 1-3-4-7, wobei
diese Auffächerung durch ein Crescendo zum Mezzoforte
unterstützt wird. - Im nächsten Anlauf wird dann
ein achtstimmiger Akkord in enger Lage erreicht und mit Vibrato
durchgeschüttelt. Darauf erklingt der Anfang erneut,
nun in beschleunigter Entwicklung. Mit einem Crescendo wird
rasch Vollgriffigkeit erreicht, diesmal stark bitonal geprägt,
als Gegeneinander von d-moll und E-Dur plus Fis; Akzent und
Vibrato werden vorgezogen, im gestreckten Schluss wird die
Beschleunigung auskomponiert, mit einer Halbierung der Notenwerte
und einem Accelerando fast auf das doppelte Tempo.
Berios Musik, die nicht nur in Sinfonia stark in der Musikgeschichte
wurzelt und mit deren herausragenden Werken spielt, lädt
immer wieder zu Assoziationen ein. Dieses Accelerando erinnert
mich so im Gestus von Aufschwüngen, Auftakten, Aufbau
der Stimmen zu dichten Akkorden, Vorhalten, leittöniger
Chromatik, Insistenz des Drängens und Nichtauflösung
des Versprechens - ja es erinnert mich verflixt an das Tristanvorspiel,
vor allem beim zweiten Auftreten im harten Achtfuß-Register,
wenn noch ein Vibrato aufgesetzt wird.
Vollends mit großer Geste präsentieren sich dann
die durch rauschende Arpeggi eingeführten Kleinterz-Akkorde,
fortissimo herausgeschleudert, akzentuiert und vibriert. Zusammen
mit der Ueberleitung wird hier wieder die bereits bekannte
Elftönigkeit des Anfangs (ohne cis) erreicht.
Die dritte Durchführung zeigt dann Begleitformeln, wie
sie für das Akkordeon an sich idiomatisch sind - oder
wenigstens als solche empfunden werden könnten - und
dies im flotten Tempo. Doch die scheinbar banale Formel erweist
sich als streng abgeleitet, die Begleitfigur thematisch-motivisch
vorbereitet, der Aufstieg in Quarten als Antwort auf den Quartenabstieg
des Themas, das es als Wechselnote dazu, und das ganze mit
thematischem Gewicht vorbereitet in der rechten Hand, als
allmähliches Accelerando.
Sobald sich die Spielfiguren etablieren, setzt Berio - ähnlich
wie bereits in der Sequenza II für Harfe - zu einem zweischichtigen
Spiel an, wechselt die Spielfigur gleichsam von Hand zu Hand,
um in der anderen dann jeweils Schwergewichtigeres gegenüberzustellen.
Als zusätzliche Schwierigkeit muss links ja auch noch
der Balg geführt werden. Dann wechselt Berio plötzlich
auf das zweite Manual, ergeht sich in Spielfigur und Effekt
pur, mit fest gekoppelten und übereinander gesetzten
Septimen- und Mollakkorden und Akkordtremoli, um dann mit
der ersten Pause das Gerassel gleich wieder zu brechen und
allfällige Erwartungshaltungen zu enttäuschen.
Dann türmt er gleich drei Akkordkoppelungen übereinander,
zeigt, wie differenziert man ein an sich plumpes Manual behandeln
kann. Auf einen Akkord wird ein zweiter hinzu gesetzt, oft
gar ein dritter, auch ein Akkordtremolo, das man nur auf diesem
Instrument erzeugen kann. Darüber ergeht sich der Diskant
in virtuosen Figuraturen, leitet zu einem lauten Balgtremolo
über und weiteren extrem schwierigen und virtuosen Passagen,
die ein sehr feines Spiel erfordern. Weitgepannte Intervalltremoli
bilden dabei die eine Schicht -Nonen, Sexten, Quinten, Terzen.
Parallel dazu verdichten sich die Akkordtremoli bis zum Triller.
Als dritte Schicht erklingt darüber der Hochton b4, der
später chromatisch ins h4 weiter gehührt wird und
auch als Klang-Mixtur wirkt.
Diese Überlagerung von Gesten und Schichten, die untereinander
einen Sekundärdiskurs bilden, kennt man bereits von den
Sequenzen für Harfe und Klavier. Hier erscheinen die
Schichten aber viel stärker aufeinander bezogen; so wird
beispielsweise eine Akkordkoppelung gespiegelt durch die Koppelung
von Vier- und Achtfuß, verbunden mit einem Terztremolo.
Die Zweigesichtigkeit spiegelt sich auch im Tempo. Dem Tempo
primo Viertel = 66, ma flessibile, das einem klassischen Tempo
giusto entspricht, steht für die virtuosen Partien ein
jeweils mit Accelerando und Crescendo erreichtes Tempo Viertel
= 104 gegenüber; das subito wieder eintretende Tempo
primo wird durch überlappende Phrasen oder vorgezogene
Einzeltöne motivisch vermittelt. Durch ihr annährend
ganzzahliges Verhältnis von 3:5 beziehen sich die beiden
Tempi deutlich aufeinander. Dazwischen wird Tempo 84, vorab
für ausgeprägt akkordische Passagen, unvermittelt
hingestellt, wie ein Registerwechsel. Auch da ist ein ganzzahliges
Verhältnis feststellbar, 4:3 zum Grundtempo. In dieser
13. Sequenz lassen sich so verschiedenste Zahlenspielereien
festmachen. Als Rondo klingt der Anfang refrainartig 13 mal
an, nicht ganz deckungsgleich damit kehrt das Grundtempo 13
mal wieder, und ihre komplementären Tempi finden sich
acht- rsp. fünf-, also ebenfalls 13mal. Was sich nun
nicht in diesem Raster bewegt, sticht heraus: Das einzige
längere Balgtremolo - ein ganz kurzes, das oft übersehen
wird, findet sich dann am Schluss der 3. Seite -fällt
mit dem einzigen Ritardando zusammen, wobei das Tempo primo
mit 64 knapp unterschritten wird. Insgesamt dreimal wird die
obere Tempolimite auf 112 durchbrochen - interessanterweise
unter gleichen Vorzeichen, stets verbunden mit dem weiten
Ausgreifen h2-des3, mit weiten Akkorden, unabhängigen
Aktionen der beiden Hände und lauter Dynamik. Dann folgt
der einzige Kompromiss, wo das Tempo nur bis 92 und nicht
bis auf 104 hochgepeitscht werden kann, und die Rücknahme
an den Ruhepunkten, einmal auf 54 mit Fermate, vor und am
Schluss dann auf 50. Dies sind jedoch keine „Bahnhöfe”,
man muss stets präsent sein. Die Werkreihe der Chemins,
welche die Sequenzen in ein orchestrales Gewand kleiden, füllen
diese Fermaten als „Orchesterkadenzen” mit Kommentaren
und Vitalität. Bei Berio sind die Fermaten, die er in
den letzten Jahren jeweils mit ihrer genauen Sekundendauer
bezeichnet hat, äusserst wichtig auch als gliedernde
Zäsuren und Bremsen.
Berio wählte bewusst die englische Bezeichnung Accordion,
nicht fisarmonica wie z.B. Sciarrino in seinem neuesten Akkordeonstück.
Akkord soll bereits im Titel anklingen - aber Berio entzieht
sich der Erwartung, indem er zwar Akkorde aufbaut, aber kontrapunktisch
verwendet, nicht begleitend: Polyphonie, nicht Akkordik, ein
imaginärer Chanson in Quarten und strengster Materialbehandlung.
Ein Vergleich liegt auf der Hand: das Violinkonzert Alban
Bergs mit seiner so tonalen Zwölftonreihe, deren Anfang
ebenfalls genuin aus dem Instrument (den in Quinten gestimmten
Violinsaiten) gewonnen wird. Und dieser Vergleich lässt
sich noch weiter führen: Auch hier paaren sich Melodik
mit strengster Erfindung und dodekaphonischer Durchführung,
strenge Kontrapunktik und eine Hommage an Bachs Choral „Es
ist genug” auf der einen Seite, die Anklänge einer
Ländlermelodie im dritten Satz - „Wie aus der Ferne”,
übrigens eine weitere Parallele - andrerseits, was auch
die angestrebte Höhe verdeutlichen soll, die Nobilitierung
des Akkordeons.
Langsam hat sich Berio an das Instrument herangetastet, das
auch in seiner Biographie eine Rolle spielt: Sein Studium
am Mailänder Konservatorium hatte er sich als Schlagzeuger
in einem Akkkordeonorchester finanziert. Die Akkordeon-Farbe
verwendete er einmal im Re in ascolto und dann Schritt für
Schritt - nach der Bekanntschaft mit Teodoro Anzellotti, die
Wolfgang Becker vom WDR und Rene Karlen vom Migros Kulturprozent
vermittelt hatten -, immer in Bewegung im Geburtstags-Trio
für Mauricio Kagel mit Violine und Posaune, sehr heftig
mit Läufen und Figuren in den Chemins V, die aus der
Sequenza XI per chitarra herausgewachsen sind - auch hier
zeigt sich im übrigen die Nähe von Chanson zur Gitarren-Sequenz
-, schliesslich wieder mehr als Farbe in der Oper Outis, Milano
1996. Nun also ein Solostück, wo die Seele des Akkordeons
ergründet werden soll.
„Ich hatte das Akkordeon bereits bei verschiedenen
Gelegenheiten benutzt, „mal verborgen” in Instrumentengruppen,
mal als Klangfarben-Vermittler zwischen disparaten Instrumentenfamilien.
Die Begegnung mit Teodoro Anzellotti überzeugte mich,
das Akkordeon als ein Soloinstrument zu würdigen und
die ihm innewohnenden und im musikalischen Vortrag erkennbaren
populären Erfahrungen mit zu berücksichtigen. Ich
denke an die Begleitung von Landpartien, an Lieder der Arbeiterklasse,
an Night-Clubs, an argentinische Tangos und an den Jazz -
dem, mehr als jeder anderen Erfahrung in den letzten Jahrzehnten,
eine neue Bewertung des Instruments zu verdanken ist. Mit
Sequenza XIII stellte ich mich nicht der Aufgabe, all diesen
Vorgeschichten gleichzeitig eine Hommage abzustatten. Chanson
ist lediglich ein spontaner Ausdruck - als Improvisation,
als Rondo? - meiner Beziehung zum Akkordeon. „Eine Erinnerung
an die Zukunft”, wie Italo Calvino sagen würde,
dieses Instrumentes in ständiger Weiterentwicklung.”
Entstanden ist das Stück spontan, in kurzer Zeit. Berio
ließ sich von Anzellotti die ganze Klangpalette vorführen;
die von Eco für frühere Sequenzen apostrophierte
Mitgestaltung des Interpreten ist hier voll in den Kompositionsprozess
integriert. Die Materialsuche, die Erprobung der technischen
und klanglichen Möglichkeiten erfolgte gemeinsarn. Später
ließ sich Berio alles vorspielen und versicherte sich
immer, ob alles realisierbar blieb. Alles war perfekt notiert,
mit der ganzen Klangvorstellung. Dann wurden ganze Teile vertauscht;
der letzten halben Seite (ab der sechs Sekunden dauernden
Fermate) war vorerst die heutige Mitte des Stückes vorangestellt,
während die erste Hälfte von Seite 7 stattdessen
ursprünglich in der Stückmitte stand. Angefügte
oder abgeschnittene Schlüsse und diese paketweise Umstellung
ganzer Passagen sind bei Berlo - ähnlich wie bei Skawinsky
- oft zu finden, erstaunen aber, wenn wir später etwa
den organischen Finalcharakter betrachten. Alle Schnitte wurden
kaschiert, Anschlüsse und Übergänge überarbeitet
oder neu eingeschoben; Arpeggi, Überlappungen und Überbindungen
schafften Kontinuität.
Auf die deutsche Erstaufführung in Witten, woher ja
die Initiative zur Sequenza stammt, und die nachfolgende CD-Aufnahme
hin überarbeitete Berio das Stück nochmals, drei
Monate nach der Uraufführung und aus dem Kopf, bereicherte
die Harmonik, fügte ganze Zeilen dazu. Aufnahmen sind
ihm wichtig als autoritative Referenzen. Aurele Nicolet hatte
er vor der Einspielung von Sequenza I einen längeren
Brief geschrieben, um rhvthmische Missverständnisse zu
klären, die ein Vierteljahrhundert später zur Ausarbeitung
einer neuen Fassung führten.
Erwähnenswert sind schließlich noch Terzpassagen,
mit fast unkontrollierbaren technischen Aufgaben, die an die
Grenzen des heute Möglichen führen, unterbrochen
durch eine eher von Spannung erfüllte denn als Schnaufpause
gedachte sechs Sekunden lange Pause. Weitere Mixturen und
die Demonstration, wie vom gleichen Ton aus die verschiedenen
Akkorde gekoppelt werden, loten dazu die Klangwerte aus. Die
folgenden Themeneinsätze gehen dann fast unter, weil
sie fest eingebunden sind in virtuoses Figurenwerk.
Berio hasst das lärmende: „Ich mag kein lautes
Akkordeon, das wie Bahnhof klingt”. Viele neuere Literatur
für Akkordeonsolo erinnert an Zirkus, Variete, Show.
Gewiss, Berio stellt auch diese vordergründige Welt dar,
als Cliche blossgestellt, karikiert. Doch dieser typischen
stellt er eine andere Welt gegenüber, eine sensible,
distanzierte, lontano, bewusst in traditioneller Tongebung,
im fließend schönen Legato, was gerade etwa die
erste Seite klanglich so ungemein schwierig macht. Gegen den
clichierten Klang setzt er im weichen Achtfuß einen
sehr feinen Grundklang, mit dem der Akkordeonmusik eine neue
Richtung gezeigt werden soll. Berio bevorzugt die leisen,
fein schattierten Töne, kultiviert die zarten Nuancen.
Extrovertierte Virtuosität steht nicht im Vordergrund,
vielmehr werden dem Spieler flexible Klanglichkeit und eine
präzis-virtuose Kontrolle der instrumentalen Gesten abverlangt.
Berio sucht auch nicht den Avantgardestil. Das Geräusch,
Leerluft, das existentielle Keuchen interessiert ihn nicht
- hier nicht, nicht einmal das quetschende sffzp, das für
die Oboen- und Trompetensequenz so wesentlich war. Nein, „Chanson”
präsentiert sich eher wie die liedhafte Sequenza für
Klarinette und atmet den zart verhangenen Unterton neapolitanischer
Lieder und französischer Chansons, wie sie eben ein Coscia
so meisterhaft vermittelt. Luciano Berio, der aus der italienischen
Region Imperia, unweit der französischen Grenze stammt,
mag diesen Klang, dieses Sprachrohr einer feinen Melancholie.
Und er wollte das Stück in diese spezifischen musikalischen
Milieus einbinden.
„Meine Beziehungen zur Volksmusik haben oft einen emotionalen
Charakter. Wenn ich mit dieser Musik arbeite, bin ich gepackt
vom Erlebnis ihrer Entdeckung. - Immer wieder kehre ich zur
Volksmusik zurück. Ich möchte mit meinen eigenen
Mitteln von diesem Schatz Besitz nehmen. Ich habe einen utopischen
Traum, obwohl ich weiß, dass er nicht realisiert werden
kann: Ich möchte gerne eine Einheit zwischen der Volksmusik
und unserer Musik schaffen”. Die raffinierte Zubereitung
der Folksongs waren ein wichtiger Schritt; das Violakonzert
Voci mit seinen eingeschmolzenen Anklängen an die Volksmusik
führt noch weiter.
Die letzte Seite von Sequenza XIII, die ursprünglich
ja gar nicht so geplant war, bildet eine Synthese der beiden
Welten (wie übrigens auch bereits die Seite 5, die zunächst
den Schluss vorbereitete), eine Koppelung von „Bahnhof”
und Kontrapunkt, dazu ein Spiegel des Anfangs, indem das aufgefächerte
Material hier langsam wieder abgebaut wird: Ein einfacher
Arpeggio-Akkord baut das Elftonfeld auf mit dem Zielton cis,
komplementär zum harmonischen Feld des Anfangs. Ein Kleinterz-Tremolo
bereitet die schematische Mollakkordkopplung des zweiten Manuals
vor. Mit der Koppelung von hartem und weichem Achtfußregister
erklingt dazu das Thema mit in ihrer Lage vertauschten Tönen.
Es schieben sich indessen keine chromatischen Töne ein
und kein Akkord wird aufgebaut; die Zweistimmigkeit des Diskants
wird vielmehr auf eine einzige Stimme zurückgenommen,
die sich dann chromatisch im mit einer Fermate lange ausgehaltenen
Triller löst, begleitet von starren Akkordkoppelungen.
Das Thema ist allpräsent. Ein zweites Mal setzt es unbegleitet
ein, chromatisch sich zuspitzend, gebremst durch das auf 50
zurückgenommene Tempo, reduziert auf den weichen Achtfuß,
eingefügte Pausen und eine weitere Fermate. Ein letztes
Mal erklingen im strengen Kontrapunkt die ersten vier Töne,
f-e, h-c. Und doch wird nochmals Neuland entdeckt. Hatte Berio
bis auf die Schlussseite den Hochton ges4 aufgespart, so erklingt
nun mit 1F der tiefste Ton überhaupt wie aus einem Abgrund.
Vibrato und die weite Lage, in die das c eingefügt wird,
eröffnen nochmals eine andere Welt; das c in der Mitte
erklingt wie eine Orgelmixtur, in die sich der Materialabbau
und die Beruhigung des Tempos organisch einfügen.
Von Edoardo Sanguineti hat Berio dem Chanson ein poetisches
Motto nachgestellt, das gerade auf diesen Schluss anspielt
- und die Emotionen, die das Stück auslöst: „...und
so tröstet uns ein Akkord, der uns freundlich schließt,
schlicht: Die Katastrophe ist mittendrin, ist im Herzen: aber
sie bleibt dort eingezäunt, verschanzt.” |