Die Gabe der Diskretion geht auch
im zunehmend marktschreierischer werdenden Klassikgeschäft
immer mehr verloren. Das Unspektakuläre will eben lauthals
angepriesen werden, da es aus sich selbst heraus keine Aufmerksamkeit
zu erregen imstande ist. Umso angenehmer sind die raren Ausnahmen
die unter dem Wildwuchs des Schrillen ungehindert wachsen
und gedeihen. Die Produktionen aus dem kleinen Hause Winter
& Winter sind schon aufgrund ihrer haptischen Schönheit
ein Indiz für das ganz Andere, das Musik letztlich hörenswert
macht. Teodoro Anzellotti, Ausnahmeakkordeonist der ersten
Stunde, hat nun bei Winter & Winter eine neue Einspielung
veröffentlicht: Chanson discrète.
Anzellotti hat unzählige Komponisten zu neuen Werken
für das klischeebehaftete Akkordeon animiert, auch davon
kündet diese Produktion. So erklingen hier Luciano Berios
dreizehnte Sequenza (Chanson), Toshio Hosokawas 'Slow Motion'
und Salvatore Sciarrinos 'Vagabonde blu', im Wechsel mit Canzonen
Johann Jakob Frobergers.
Diskretion war für Froberger und seine Zeitgenossen
nicht nur eine grundsätzliche Lebensart sondern auch
eine Spielanweisung. 'Avec discrétion' findet sich
häufiger in seinen Lamentos, den Meditationen der Melancholie,
von denen drei hier veröffentlicht sind. Mit Diskretion
verbreitete er auch seine Kompositionen, die er aus Angst
vor falscher Wiedergabe häufig zurückhielt. Dennoch
war Froberger bis in die Mozartzeit gerühmt wegen seiner
eigentümlichen musikalischen Erzählkunst, der Gabe,
'auf dem blossen Clavier ganze Geschichten' wiederzugeben.
Diese schwermütigen Geschichten spielt Anzellotti mit
dem ihnen angemessenen Augenzwinkern, wenn etwa im 'Tombeau
sur la mort de Monsieur Blancheroche' eine ins Nichts herabgleitende
Tonfolge den letzten Moment eines durch einen Treppensturz
zu Tode gekommenen Freundes nacherzählt. In einer anderen
Klage - 'darüber, dass ich ausgeraubt wurde' - wird der
Interpret aufgefordert, das Werk mit 'Diskretion' zu spielen,
und 'besser, als die Soldaten mich behandelt haben'. Anzellotti
kommt dieser Aufforderung in jedem Moment nach und gibt eine
unprätentiöse und dabei zutiefst wahrhaftige Version
von Frobergers Kabinettstückchen zum Besten. Sein Akkordeon
wird dabei zu einem Instrument von großartiger Polyphonie
und nuancenreichen Farben, die menschliche Stimmungen fern
von jedem Schifferklaviergestus in Musik übersetzt.
In der Tradition der Frobergerschen Canzona, die direkt aus
dem Leben gegriffen scheint, steht Luciano Berios Sequenza
XIII, in enger Zusammenarbeit mit Teodoro Anzellotti entstanden.
Das klar strukturierte Werk wird als ein 'Chanson' für
Akkordeon realisiert, das die populär-musikalische Bedeutung
des Instrumentes bewusst nicht ausklammert, wenn es etwa auf
die vorfabrizierten Akkordkoppelungen der linken Hand zurückgreift.
Anzellotti erweckt Erinnerungen an die 'Begleitung der Melodien
bei Landpartien, an die Lieder der Arbeiterklasse, an Nachtclubs,
argentinische Tangos und an den Jazz' und man merkt, dass
Berio in seiner Jugend Schlagzeuger in einem Akkordeonorchester
war.
Toshio Hosokawas 'Slow Motion' ist eine Hommage an das japanische
Gagaku-Theater, dessen zeremonielle Bewegungen eine Entdeckung
der Langsamkeit und somit wieder der Diskretion darstellen.
Von ähnlicher Intimität ist Salvatore Sciarrinos
'Vagabonde Blu', das mit seinen zarten, tönenden Punkten
den Atem des Instrumentes hörbar macht. So verschmelzen
zuletzt Spieler und Instrument zu einer atmenden Symbiose
und bescheren dem Hörer ein tiefes künstlerisches
Erlebnis. In Teodoro Anzellotti wird die Erzählkunst
eines Johann Jakob Froberger an einer anderen Klaviatur wieder
lebendig. Zugleich lässt uns diese Musik hörend
einen Blick auf die Klaviatur des Lebens werfen. |